Allein durch die Pyrenäen
18.07.2011 - 7405 x angesehen (zuletzt am: 21.12.2024 um 18:21)
Wieder einmal ein traumhafter Reisebericht unseres Bike Aid Mitglieds Helmut Scheuer. Diesmal ohne Bike aus den Pyrenäen. Zurücklehnen, Eintauchen und Geniessen.
Reisebericht von Helmut Scheuer
Wie so oft kommt es anders als man denkt. Anfang des Jahres hatte ich nach Pfingsten noch einen gemeinsamen Radurlaub mit meiner Freundin geplant. Doch seit Ende März gehen wir wieder getrennte Wege. Kurze Zeit später sah ich Montags abends eine Naturdokumentation aus der Reihe „Erlebnis Erde“ über die Pyrenäen. Die Bilder waren einzigartig schön und haben mich derart beeindruckt, dass ich kurzerhand meinen Urlaub vom Radurlaub in der Provence zu einem Wander- und Fotografierurlaub in den Pyrenäen umplante. Kein Mountainbikeurlaub – nein – denn in den beiden Nationalparks, die ich durchwandern wollte, ist Biken nicht erlaubt.
1.Tag
Mein Berlingo brachte mich mit Hilfe einer neuen Iphone-Navi-Software sicher nach Pont d' Espagne – dem Startpunkt einer siebentägigen Wandertour durch den französichen und spanischen Nationalpark im Herzen der Pyrenäen. Ich war mit einem schweren Wanderrucksack mit allen Camping-Utensilien ausgestattet – Zelt, Schlafsack, Essbesteck., Kocher, Tasse, Isomatte und was sonst noch so zum Überleben in der Natur notwendig ist und mein Messer namens Bärentöter – es sollen sich ja noch ein paar braune Petze in den Pyrenäen herumtreiben. Außerdem mit dabei eine neue Superzoom-Kamera aus dem Hause Fuji mit einer eindrucksvollen Brennweite von 24 – 720 mm, da eine vergleichbare Spiegelreflexausrüstung ungefähr 5 Kilogramm wiegt, die ich keinesfalls tragen wollte. Mit ca. 18 Kg im Rucksack, zwei Geh-Stöcken und meinen Wanderschuhen startete ich den ersten Tourentag in den französischen Nationalpark. Von ca. 1300 Metern geht es hinauf auf über 2150 Meter zum Refuge unterhalb des Col de Mulets. Das Gepäck ist schon verdammt schwer – normalerweise trage ich ja auf meine Alpencross-Passagen nur ein Gewicht von um die 8 kg – das hier war schon deutlich mehr und entsprechend fragte ich mich ständig, auf was ich eigentlich hätte noch verzichten können. Seit einem Schlüsselbeinbruch beim Mountainbiken ist mein rechts Schlüsselbein zu einem Knochenklumpen zusammengewachsen und auf diesen Knuppel drückt nun der rechte Trageriemen.
Trotz des schweren Rucksacks genieße die schöne Landschaft. Auf halber Höhe zur Berghütte umgehe ich den Lac de Gaube, einen wunderschönen Bergsee mit schmaragdgrünem klarem Wasser. Einige hundert Höhenmeter weiter oben begegnet mir eine Gruppe Gemsen, die sich mit höchster Wendigkeit und Grazie durch ein Geröllfeld bewegen. Nun kommt meine neue Superzoom-Kamera zum erstmaligem Tele-Einsatz. Der Zoom ist tatsächlich beeindruckend, aber bei ausgefahrenen 720 mm ist ein wackelfreies Bild trotz Bildstabilisators echte Glücksache. Ein paar halbwegs scharfe Aufnahmen gelingen trotzdem. Nach nur vier Stunden Wandern und Fotografieren erreiche ich das „Refuge des Oulettes de Gaube“ am Fuße eines kleinen Talkessels mit einem kleinen Gletscher auf 2150 Metern Höhe. Da ich erst Mittags losgekommen bin, beschließe ich, den Passübergang erst morgens zu wagen, da die nächste Etappe sehr lang ist und ich bis zum Einbruch der Dunkelheit kaum auf bewohntes Gebiet gelangen könnte. Abends sitzen viele Bergwanderer unterschiedlicher Herkunft gemeinsam beim Essen – ein niederländisches Pärchen spricht ganz gut Deutsch, für den Rest reicht mein aus der Übung geratenes Französisch ganz gut. Es ist jedenfalls ein lustiger Abend bei einer halben Flasche Hauswein. Hütten mit Lagerschlafplätzen sind ja auch in den Alpen kein Luxus, aber meist gibt es wenigstens warmes Wasser und ne Dusche – in den Pyrenäen ist das Mangelware. In keiner der drei Hütten gab es Duschen oder warmes Wasser – egal – Waschen geht auch so irgendwie, wenn auch nicht so doll. Aber das geht jedem hier so. In so einem Lager ist auch nachts ständig was los – gegen 2 Uhr morgens kommen noch drei Wanderer oder Bergsteiger weiss der Teufel woher und besetzen die drei Schlafpritschen neben mir. Fünf Minuten später schnarcht mein Nebenmann munter los und ich finde nur einen Ohrenstöpsel – Merde!! Irgendwie komme ich dann doch noch durch die Nacht.
2. Tag
Nach einem bescheidenen Hüttenfrühstück beginne ich am nächsten Morgen mit meinem Aufstieg zum „Col de Mulets“ einem 2598 m hoch gelegenen Übergang nach Spanien. Außer mir sind nur noch zwei ältere Französinnen auf dem Trampelpfad unterwegs, die ich schnell überhole. Die Route geht nun über steile Altschneefelder hoch zum Pass – ich folge einfach den Spuren einiger Vorgänger. Es liegt in dieser Höhe noch eine Menge Schnee – mit soviel hatte ich eigentlich nicht gerechnet – hier wären Steigeisen hilfreich. Hinter der Passhöhe geht es genauso runter, wie es auf der anderen Seite hoch gegangen ist – einige Schneefelder müssen gequert werden. Der Wanderführer beschreibt diesen Teil meiner Wandertour als wegloses Gelände ohne viele Markierungen in Form der hier üblichen Steinmännchen oder -pyramiden. Es gilt einfach auf der linken Flussseite talabwärts zu gehen. Und schon stehe ich in einem steilen Schneefeld, das es zu überqueren gilt. Der Schnee ist hier nicht sonderlich fest und ich habe erstmals ernste Bedenken. Aber da ich schon die Hälfte hinter mir habe, gehe ich weiter, immer festeweg Stufen in den Schnee schlagend und hoffend, das diese mein Gewicht tragen. Kaum zwei Meter nach meinen Bedenken werden diese auch schon zu Tatsachen – ich rutsche ab und schlittere auf dem Rücken den Berg hinab Richtung tosendem Wildbach. Irgendwie schaffe ich es nach etlichen Metern links aus dem Schneefeld heraus zu schlittern und lande in einem grobkörnigen Geröllfeld, das meinen Abwärtsdrall ruckartig stoppt. An den Beinen hinterlassen einige scharfkantige Steine blutige Spuren, aber Gott sei Dank nur an der Oberfläche. Ich denke mein Rucksack hat mich soweit abgebremst, das Schlimmers verhindert wurde. Nun hatte ich Gelegenheit, meinem Schutzengel erstmals ernsthaften Dank abzustatten. Es sollte nicht bei diesem einemmal bleiben.
Der weitere Weg wird mit mehr Vorsicht fortgesetzt und einige Zeit später sind auch die Schneefelder gänzlich verschwunden. Diese wunderschöne Hochtal des Ara-Flusses, der oben am Col de Mulets entspringt, ist einsamer als einsam. Ein Murmeltier entdecke ich beim Sonnenbaden. Wieder hadere ich mit meiner neuen Kamera. Mit einer meiner Spiegelreflexen und einem ordentlichen Teleobjektiv, wie ich sie zuhause gelassen habe, hätte ich hier spektakuläre Aufnahmen machen können. Aber das zusätzliche Gewicht hätte mich vermutlich umgebracht. Wenigstens eines der Bilder ist dann doch scharf geworden. Weiter geht es bergab durch wunderschöne Bergwiesen mit zahlreichen Blumen mir unbekannter Herkunft. Wenigsten die Makro-Funktion meiner neuen Kamera ist stark genug, mich mit schönen Blütenaufnahmen zu beschenken. Viele der Pflanzen hier sind endemisch, d. h. sie kommen nur hier in den Pyrenäen vor. Im Nationalpark ist sowohl Blumenpflücken als auch Mineralien sammeln verboten, genauso wie Mountainbiken oder Zelten. Lediglich in den Hochlagen - mehr als eine Wegstunde von der nächsten Straße entfernt - ist Zelten erlaubt. Ich entdecke sauber abgenagte Knochen eines größeren Säugetieres. Entweder ein Schaf, eine Gemse oder gar einer der seltenen Pyrenäen-Steinböcke. Das wahr wohl ein Fressplatz der hier noch zahlreichen vorkommenden Geier. Das beweisen ein paar riesige ausgerissenen Federn. Offensichtlich gab es hier ein opulentes Fressgelage mit einigen Streitigkeiten, wie ich das schon im Tierfilmen beobachten konnte. Ich überlege, ob mein siebenjähriges Patenkind eigenlich noch Cowboy und Indianer spielt – mit einer so langen Feder im Haar hätte er die Nachbarjungs sicherlich schwer beindruckt. Nur die Tatsache, das Aasfresser mit Bakterien jeder Art viel besser klar kommen als wir, verhindert, das ich eine der schönen Federn mitnehme. Wahrscheinlich ist aber auch das ohnehin verboten! Die lange Abwärtspassage über Stock und Stein tut meinen Füssen überhaupt nicht gut – ich bemerke das Entstehen von ersten Blasen – es brennt wirklich unangenehm. An einem kleinen Wasserfall angekommen, kühle ich die Füsse im kristallklaren Wasser und mache eine länger Pause. Der Rest des Weges ist nun einfacher zu gehen, aber meinen Füssen nutzt das nichts mehr – die Blasen sind längst da. Auf dem Weg zum Camping-Platz – meinem geplanten Übernachtungsziel kurz vor der spanischen Kleinstadt Torla – treffe ich ein deutsches Paar mit Kleinkind. Katja ist auch begeisterte Fotografin und hat tatsächlich ihre ganze schwere Spiegelreflexausrüstung dabei – einschließlich eines riesigen Carbon-Statives. Ehemann Tobias trägt derweil den kleinen Simon im Tragrucksack durch die Gegend. So hat jeder sein Päckchen zu tragen. Wir kommen nett ins Gepräch und die beiden erzählen mir von ihrem Hotel in Torla und ich beschließe kurzerhand auf das Campen zu verzichten und mir dort auch ein Zimmer zu nehmen – mit Badewanne und Kleinküche – echter Luxus. Meine Füsse haben mir wirklich gedankt. Torla ist eine schöne Stadt mit alten Natursteinhäusern am Eingang des Ordesa-Nationalparkes. Als Ausgangspunkt für meine Touren durch den Nationalpark wesenlich besser geeignet als der fünf Kilometer weiter weg liegende Camping-Platz.
Es waren vor allem die Bilder aus dem spanischen Ordesa-Nationalpark, die mich so gefesselt hatten, dass ich unbedingt herkommen musste. Solche tiefen Canyons gibt es sonst kaum in Europa. Die Gorges du Verdon in der Provence ist auch schön, aber längst nicht so tief und spektakulär. Die Fels- und Gebirgsformationen könnten genauso gut aus den USA hierher verpflanzt worden sein. So etwas hatte ich bis dahin nur im Yosemite-Nationalpark oder im Grand Canyon gesehen. Die Schönheit dieser Landschaft ist atemberaubend und hinterlässt eine tiefe Demut vor der Schöpfung. Jetzt war ich hier und dank Katja und Tobias war es sogar möglich, einige weiter weg liegende Punkte des Parks mit dem Auto zu erreichen.
3. Tag
Am nächsten Tag wandere ich mit reichlich Blasenpflastern an den Füssen mit Katja und Tobias durch ein schönes Seitental des Ordesa Nationalparks, der Sierra Bun, wo es noch zahlreiche Geier geben soll. Der Aufstieg ist mit meinen präparierten Füssen geht besser als gedacht – Blasenpflaster verdienen eigentlich einen Nobelpreis – denke ich. Tatsächlich entdecken wir an einem kleinen Wasserfall an einer riesigen Steilwand erste Geier über uns. Katja und ich machen uns sofort daran, die Vögel in den Focus unserer Kameras zu bringen. Wieder stelle ich fest, das 720 mm Brennweiter aus der Hand fotografiert trotz Bildstabilisator nicht einfach zu händeln sind. Immer wieder fliegen die riesigen Vögel aus dem Bild und ich finde sie dann nicht sofort wieder. Katja mit Ihrem ausgezeichneten Spiegelreflexsucher und einem riesigen Teleobjektiv mit Konverter hat es da etwas leichter. Ihr gelingen ein paar schöne Aufnahmen, während meine gerade mal als normale Knipserei durchgehen. Gott sei Dank fliegt oder läuft die Landschaft hier nicht weg – hier gelingen auch mir ein paar gute Bilder. Am Ende gehen wir zusammen knapp über 20 Kilometer durch diesen wunderschönen Canyon mit zahlreichen Wasserfällen. Meine Füsse brennen wie am Vortag, aber Dank des Blasenpflasters hat sich die meine Fußlage wenigstens nicht verschlimmert.
4. Tag
Heute gehen wir zusammen durch das Ordesa-Valley hinauf bis zu den zahlreichen Wasserfällen. Dieses Tal ist wirklich eine Augenweide, das aber außer uns auch ganze Busladungen von Besuchern aus aller Welt aufnehmen muss. Wir sehen Japaner und Chinesen, Reisegruppen, Schulausflüge und was sonst noch alles. Der Parkplatz am Beginn unserer Wanderung ist jedenfalls gut gefüllt. In den Sommerferien ist das Fahren innerhalb des Parkes sogar verboten – dann führt eine regelmäßiger Busshuttle die Besucher von Torla zu den verschiedenen Sehenswürdigkeiten im Park. Wir sind also leider nicht allein in dieser grandiosen Landschaft, aber das nimmt dieser kaum ihren Zauber. Der Rio Arazas fällt hier vom Circo des Soaso, einem wunderschönen Felsenkessel am Talbeginn in vielen Cascaden das Tal hinab, welches wir nun hinaufsteigen. Der Weg – hier der GR 11 - ist meistens gut zu gehen und stellt keine größeren Anforderungen. Dafür gibt es allein fünf großartige Wasserfälle zu bewundern neben vielen kleineren. Die Feuchtigkeit des Tales lässt auch viele schöne Blumen gedeihen. In den ruhigeren Uferlagen des Rio Arazas gedeihen viele Köcherfliegenlarven – das Flussbett ist voll davon, aber die fertigen Mücken nerven, sobald man sich zu einer kurzen Rast niederlässt. Genau dieser Weg wird mich morgen auch wieder aus Spanien herausführen, zurück in den französischen Teil des Nationalparks. Als Dank für den Fahrdienst und die netten Gepräche während unserer zweitägigen gemeinsamen Wanderzeit, lade ich Katja und Tobias noch abends zum Essen ein. Mein Aufenthalt in Torla endet morgen.
5. Tag
Morgens besuche ich noch kurz die Post in Torla uns sende ein kleines Paket mit etwas mehr als drei Kilo unnötiger Camping-Ausrüstung zurück nach Deutschland – für sage und schreibe 39 Euro – also ein Europa der gemeinsamen Posttarife wäre wirklich nützlicher als einen gemeinsame Norm für die erlaubte Krümmung von Bananen. In Deutschland hätte mich das gleiche Paket gerade mal 16 Euro gekostet. Egal – die drei Kilo machen sich auf meinem Rücken wirklich positiv bemerkbar – ich finde, dass der Rucksack jetzt angenehm tragbar ist. Wieder durchwandere ich das Ordesa-Haupttal auf einem minimal anderen Weg hinauf zum Circo de Soaso, dem Talschluss. Von dort geht es dann irgendwie zum Refugio de Goritz, am Fuss des Monte Perdido gelegen, des immerhin dritt höchsten Gipfel der Pyrenäen. Der Weg aus dem Circo de Soaso entpuppt sich als Klettersteig mit Kettensicherung. Es geht mehr oder weniger an einer glatten Felswand hinauf. Gott sei Dank bin ich schwindelfrei und kann auch den Blick ins wunderschöne Tal genießen. Aber vorsichtig bin ich schon, denn wenn ich hier abstürze, wer weiss, wann ich dann gefunden werde? Und allein dieses Gefühl des Alleinseins im Notfall macht mir auch etwas Angst – das muss ich ganz unumwunden zugeben. Aber mein Schutzengel arbeitet gut mit. Oben angekommen genieße ich einen wundervollen Blick in das Ordesa-Tal. So viel Demut vor einer unglaublich schönen Landschaft hatte ich zuletzt nur im Yosemite-National in den USA. Weiter oben sehe ich dann ein Schild mit zwei Wegen – einen über den Klettersteig und einen ohne Klettertour – hatte ich unten nicht gesehen - die Tour als Klettermaxe war also ganz unnötig, aber trotzdem schön. Oben werde ich dann fürstlich belohnt. Als mein Blick aus dem wunderschönen Talkessel zum Cirque de Goritz wandert, blickt mich aus etwa 50 Meter Entfernung eine Gemse interessiert an. Sie macht auch keine Anstalten die Position zu wechseln. Die Kamera habe ich am Brustgurt befestigt, sodass sie schnell zur Hand ist. Die Gemse steht immer noch wie eine Statue am Fels und ist ein wunderschönes Motiv. Nur die Nahaufnahme mit dem Supertele wird wieder leicht unscharf – trotzdem eine schöne Begegnung zwischen Mensch und Tier.
Auf dem weiteren Weg hinauf zum Refugio de Goritz begegnen mir ein paar Trailrunning-Läufer, die mit leichtem Gepäck – nur Hipbag mit Trinkflasche – wieder herunter ins Ordesa-Tal laufen. Hier zu laufen macht sicher Spass ist aber auch so ziemlich das anstrengenste, was ich mir vorstellen kann. Am Rifugio de Goritz gönne ich mir eine Portion Spiegeleier mit Speck und Brot und beschließe, da es noch früh am Nachmittag ist, gleich noch durch die „breche de roland“ bis zum gleichnamigen Refugio zu laufen. Wer kennt noch das Rolandslied – von diesem Roland hat die „breche de roland“ ihren Namen? Karl der Große führte Ende des 7. Jahrhunderts einen ziemlich erfolglosen Feldzug durch Spanien – es war der erste Kreuzzug gegen die muslimischen Mauren. Die unter dem vermeintlichen maurischen Joch lebenden Christen sollten befreit werden. Bedauerlicherweise für Kaiser Karl ging es den Christen in den maurischen Königreichen Spaniens unter deren toleranten Regierungen so gut, dass sie nicht befreit werden wollten. Die christlichen Basken stellten dann der Nachhut von Karls Armee, die von dem Helden Roland von der Bretagne geführt wurde, eine Falle und machten alle nieder. Selbstverständlich starb Roland als letzter und schlug mit seinem Heldenschwert noch eine Bresche in den Felsen, eben die sogenannte „breche de roland“. Der Weg über die diesen Übergang auf 2809 Metern war für eine bewaffnete Truppe mit Pferden und Wagen sicher nicht zu bewältigen. Ich folge den Steinmännchen und gerate irgendwie in ein Geröllfeld. Nach oben wird es steil und das Geröll bietet keinen Halt, eine weitere Möglichkeit durch ein 45 Grad geneigtes Schneefeld erscheint mir gefährlich. Ich steige ca. 1 Stunde in diesem beknackten Geröllfeld herum – überall irgendwelche Steinmännchen – ich komme da nicht raus – jedenfalls nicht allein und ohne Sicherung. Also doch durch das Schneefeld – die Hälfte hab ich schon geschafft, als es richtig haarig wird. Der Schnee ist nur noch 20 cm dick und darunter das gleiche lose Geröll wie auf meinem Hügel davor. Ich habe richtig Schiss, also zurück, auch wenn es schwerfällt. Dann sichte ich das Gelände unter mir und denke, dass es von unten einfacher ist hochzukommen. Also steige ich wieder ins Tal herab, verliere ca. 200 Höhenmetern und steige von dort wieder hoch. Es funktioniert – bis auf das letzte Schneefeld – das kann ich nicht umgehen. Jetzt bin ich direkt unterhalb der Steilwand – rechts ist wieder eine Kettensicherung, die ich ein paar Meter benutzen kann. Dann verschwindet sie leider unter besagtem meterdickem Schneefeld. Dieses mal scheint das Schneefeld tragfähig. Ich entdecke eine Spur von Vorgängern und steige einfach in die Tritte ein und gelange nach ca. 10 Minuten mit einem mulmigen Gefühle wieder auf festen Boden. Die letzten Meter bis zum Durchstieg verlangen dann keine bergsteigerischen Spitzenleistungen mehr. Ca. 300 Höhenmeter weiter unten sehe ich das „Refuge de breche de Roland“ - mit einem Schlitten wäre ich wahrscheinlich in weniger als einer Minute unten – tot oder lebendig. Genauso steil wie auf der anderen Seite hinauf, steige ich nun hinab – immer feste Tritte suchend und mit den Stöcken sichernd. Es dauert nochmal fast eine halbe Stunde, bis ich die Hütte erreiche, obwohl sie doch zum Greifen nah scheint. Die Hütte ist brechend voll – nun ja – bei dem Namen! Ich finde noch einen Platz und bekomme ein reichhaltiges Abendessen, dass ich kaum bewältign kann – Gott sei Dank sind vier junge Franzosen dankbar für meine Reste. Im Tausch dafür trinke ich aus einer Plastikflasche ihr „l'eau de vie très forte“ - ich dachte erst, es sei einfach Wasser. Aber nach dieser Tour bin ich reif für ihr Lebenswasser und bedanke mich wieder heimlich bei meinem Schutzengel, der ordentlich was zu tun hatte. Die Nacht verbringe ich wieder im Massenlager, so knapp unter der Decke, dass jede unbedachte Bewegung mit einer Kopfnuss endet.
6. Tag
Nach dem Frühstück wandere ich weiter zu meinem Endziel nach Gavarnie – vorbei am Cirque de Gavarnie, von dem der zweithöchste Wasserfall Europas herabfällt. Noch ein Highlight zum Schluss. Der Weg geht wieder über Schnee und Eis und Geröllfelder hinab. Weiter unten ist er mit der Jacobsmuschel gekennzeichnet – ich bezweifele allerdings, das hier in den letzten Jahren mehr als nur Schafe vorbei gekommen sind, die mir hier überall begegnen. Steinmännchen oder andere Markierungen sehe ich überhaupt nicht. Der Weg geht an der Bergflanke entlang und verliert sich oft selbst, sodass ich immer wieder nach oben oder unten steige um irgendwie weiter zu kommen. Langsam öffnet sich rechts unten von mir der Talkessel des „Cirque de Gavarnie“. Ich sehe den Wasserfall in die Tiefe fallen – Gigantisch! Leider währt dieser Blick nur kurz, denn Nebel kommt auf. Ich hoffe noch, dass er mich nicht erreicht – vergebens. Eine knappe halbe Stunde später habe ich kaum noch mehr als 10 bis 20 Meter Sicht. Der Weg endet dann auch an einer Art Zaun mit einem Geröllfeld dahinter – Wegmarkierungen sind nicht mehr erkennbar. Ich beschließe erstmal abzuwarten und mache es mir auf meiner Isomatte gemütlich. Aber auch eine Stunde später ist der Nebel noch genauso dicht. Wasser habe ich kaum noch und nirgendwo hier sprudelt das sonst so üppig fließende Nass. Der Garmin zeigt mir, dass ich in Luftlinie kaum einen Kilometer von dem kleinen Ort Gavarnie entfernt bin, aber wo der Weg hinunter geht, zeigt er mir leider nicht. Also breche ich auf und gehe in einem immer größeren Bogen um meinen Warteplatz -tatsächlich finde ich wieder einen Trampelpfad, dem ich folge. Ich habe Glück – komme an ein Weidegatter und dahinter auf einen breiteren gut erkennbaren Weg, der tatsächlich abwärts Richtung Tal geht. Am Ende gelange ich sogar wieder unter den Nebel und sichte den Ort Gavarnie – den Endpunkt meiner Wanderung. Mit dem Bus und einem Taxi erreiche ich nach einigen Stunden Fahrt- und Wartezeit meinen unversehrten Wagen in Pont d'Espagne. Dann weiter Richtung Luz-Saint-Sauveur, wo ich übernachte. Der Tourmalet, dieser berüchtigte Pass der Tour de France wartet – er ist mein Ziel des nächsten Tages.
7. Tag
Leider ist das Wetter richtig Scheiße – kalter Niesel-Nebel. Eigentlich habe ich bei dieser Witterung keine Lust, aber der Tourmalet ist halt nicht irgendein Pass und ich bin gerade in der Nähe. Vielleicht wird ja weiter oben das Wetter besser – mit der Hoffnung beginne ich meinen Aufstieg. Fünf Kilometer vor dem Passübergang reißt mir eine Speiche – Merde! Ich öffne die hintere Bremse und sichere die Speiche mit einem Kabelbinder und fahre weiter. Oben ist der Nebel genauso dicht wie unten und mit der gerissenen Speiche ist an meine geplante Rundtour ohnehin nicht zu denken. Bei dem Wetter bin ich auch nicht wirklich traurig – also hintere Bremse wieder zugemacht und langsam wieder abwärts zurück zum Auto. Der Tourmalet ist keine wirkliche Herausforderung – die Steigungsprozente bewegen sich zwischen fünf und maximal elf Prozent. Der Schnitt liegt bei 7,6 Steigungsprozenten - auf der anderen Seite sogar noch etwas geringer. Seinen schlechten Ruf bei den Fahrer der Tour de France verdient der Pass heute nicht mehr. Aber 1910 war das anders. Damals war die Paßstrasse noch eine unbefestigte Geröllpiste und die Räder der damaligen Protagonisten über 15 Kilo schwer und ohne eine richtig funktionierende Gangschaltung. Die erste Überquerung gelang 1910 dem späteren Gesamtsieger Octave Lapize, der sich danach allerdings erregt zu dem Ausspruch hinreißen ließ, die Tour-Organisatoren seien allesamt Mörder, „Vous êtes des assassins. Oui, des assassins!“ Ich persönlich finde den Mont Ventoux oder das Stilfser-Joch schlimmer, aber ich fahre auf gutem Asphalt und mit einem 8 Kilo-Renner. Mit dem Beweisfoto endet meine erste kombinierte Wander- und Rennradtour durch die Pyrenäen. Dabei habe ich wundervolle Momente in einer wundervollen Landschaft erlebt und bin richtig runderneuert. Ich habe mein neues Lieblingsgebirge gefunden und werde sicher nicht das letzte Mal in den Pyrenäen Urlaub machen.
Helmut Scheuer