Das Fell über die Ohren gezogen...

Jetzt weiß ich endlich wo dieser Spruch herkommt. Er hat seinen Ursprung wohl aus dem Wintersport. Genau genommen wohl aus dem Bereich der Hochgebirgs-Skitouren. Woher die Überzeugung rührt, das gibt es hier zu lesen.
Eigentlich bin ich seit Jahren auf der Suche nach einem adäquaten Ergänzungssport zum Biken - speziell für die schmuddelige Jahreszeit.

Wintersport kommt da gerade recht. Wenn man über 40 Jahre mit Board und Ski auf Alpenpisten unterwegs war, dann ist das Pistenskifahren irgendwann wirklich abgenutzt und man fragt sich wieso man ausgerechnet im Winter, in der schönsten Landschaft mit Seilbahnen bergan fährt um danach auf immer dichter bevölkerten Pisten bergab zu rauschen.

Als Mountainbiker ist man gewöhnt sich die Berge selbst zu erobern und die Abfahrt um so mehr zu genießen.
Dazu gibt es ein echtes Pendant im Winter: Hochgebirgs-Skitouren, auch Skibergsteigen genannt. Die benötigte Ausrüstung ist umfangreich aber mittlerweile so perfekt, daß sie auch ohne nennenswerte Einschränkungen für Pistenskilauf verwendet werden kann. Man benötigt:

- Ski, am besten etwas breitere Freerider, die sind fast immer tourentauglich
- eine Tourenbindung
- Felle, die als Aufstiegshilfe unter die Ski geklebt werden
- Harscheisen, für ausgesetzte oder sehr steile Passagen auf festem Schnee
- Lawinen-Sicherheitsausrüstung (LVS-Sender, Schaufel, Sonde)
- Grundausrüstung für Gletschertouren (Alpinrucksack, Seil, Pickel, Steigeisen, Klettergurt, Karabiner etc.)
- Möglichst leichte Funktionsbekleidung (zur Not geht es auch mit den Winter-Bike-Klamotten
- Kondition und gutes skifahrerisches Können

Das Wichtigste aber ist ein kundiger Führer, am besten ein ausgebildeter Tourenführer. Touren in hochalpinem Gelände sind gefährlich und man benötigt, gute Kenntnisse und Erfahrung um einen Tour lawinen- und spursicher zu planen.

Einen solchen Tourenführer haben wir bei BIKE-AID. Bernd Feld hat uns (Verena, HaJü, mich) zu einer Tour auf das 3.500m hohe Sustenhorn in den Urner-Alpen, Zentralschweiz eingeladen.

Voran gehen einige sicherheitstechnische Übungen mit Seil und Klettergurt, die wir in Bernds Garten absolvieren. Ich wollte ja schon immer mal an einem Seil am Balkon hängen und eine Selbstrettung aus einer Gletscherspalte mittels "Prusik-Knoten" simulieren. Danach werden wir in unsere Lawinen-Verschütteten-Suchgeräte, kurz LVS, eingewiesen. Wird es mir jetzt mulmig? Ein klares JA!

Morgens um 5 fahren wir los um gegen 10 Uhr den Fuß des Steingletschers auf 1700m Höhe zu erreichen. Ausgangspunkt unserer Tour. Wir wollen mit Skiern aufsteigen zur Tierbergli Hütte auf 2.795m. 1.000 Höhenmeter liegen vor uns. Das kann man als Biker ganz gut einordnen. Aber mit Skiern, und einem 10-15kg schweren Rucksack? Wie sich das anfühlt ist schwer einschätzbar. Ich sollte es wenig später erfahren.

Die Ausläufer des Gletschers reichen bis an die Straße, genau hier beginnt auch die Wintersperre des Sustenpasses. Wir kleben die Felle auf unsere Ski, checken ein letztes Mal die Ausrüstung. Es kann losgehen.

Es gilt einen guten Schrittrhythmus zu finden und die Ski eher zu schieben und nicht zu sehr anzuheben. Das geht ganz gut, auch als das Gelände etwas steiler wird. Es gibt bereits eine Spur die uns durch die spektakuläre Gletscherlandschaft immer weiter bergan führt.

Ab und an brechen Teile des Gletschers ab, es ist fast Mittag und dann beginnt das Eis seine Festigkeit zu verlieren. Wir sind zwar mitten drin im Gletscherbruch, aber immer in sicherer Entfernung zu den Bruchstücken.

Nach 3 Stunden und 7 Kilometern Wegstrecke erreichen wir die Hütte, die äußerst spektakulär auf einem ausgesetzten Felsplateau steht. Nach oben, freier Blick auf die Gletscherwelt des Sustenhorns, nach allen anderen Seiten ein atemberaubendes Panorama der umgebenden Drei- und Viertausender-Gipfel. Da ist man wirklich platt - und ich bin es auch im wahrsten sinne des Wortes. Rucksack, Spitzkehren, nicht perfekte Technik - das alles macht aus diesen 1.000 Höhenmetern gefühlte 3.000 Höhenmeter auf dem Bike.

Eine Hütte in dieser Lage, wird von Monat zu Monat per Helikopter versorgt, und es gibt eine Menge interessanter Dinge dort!

Es gibt zum Beispiel: keine Duschen, Toilettenspülung nur für zwei Stunden morgens, danach muß die Aussentoilette in 100m Abstand zur Hütte benutzt werden. Das Wasser im Waschraum läuft allenfalls als bleistiftdickes Rinnsal. Keine Heizung hingegen gibt es in den Schlafräumen. Es gibt dort aber vor allem keinen Stress, keine Hektik und kein anderes Bier als Dosenbier. Keine Aussicht und kein Glücksgefühl - das gibt es hier oben nicht ;-)

Wir beziehen unser Hüttenlager, versorgen Ski, Felle und Ausrüstung und machen uns über ein Bierchen, und mehrere Liter Tee und Mineralwasser her. Todmüde nutze ich die Zeit um ein Nickerchen bis zum Abendessen zu machen.

Als Bernd erzählt, daß am nächsten Tag die Ersteigung zweier Gipfel auf dem Programm steht, greife ich zur zweiten Portion beim Abendessen. Als dann noch das Frühstück für 6 Uhr angesetzt wird, bin ich nicht mehr sicher ob ich mich in diesen Sport verliebe.

Um 21.00 liegen wir bereits in unserem Massenlager, die Ohren zugestöpselt und versuchen zu schlafen. Irgendwann in der Nacht piepst es renitent und alle Köpfe kommen aus den Schlafsäcken - was zum Teufel geht hier vor? Es ist das Handy von HaJü - er hat vergessen, den Wecker vom Vortag zu deaktivieren. Das kostet uns den Schlaf und ihn eine Runde für die ganze Hütte ;-)

Blauer Himmel, griffige gefrorene Schneedecke, vor uns bereits ein paar andere Tourengänger, die als Seilschaft wie an der Perlschnur aufgereiht über die gleißenden Schneefelder wandern. Es scheint ein traumhafter Tag zu werden. Direkt nach dem Frühstück nehmen wir den Gipfel in Angriff. Wieder liegen 8 Kilometer und etwa 800 Höhenmeter vor - oder bessergesagt - über uns. Heute ist der Rucksack etwas leichter. Proviant und überflüssige Bekleidung bleiben auf der Hütte. Bernd hat empfohlen lediglich ein paar Mars Riegel mitzunehmen - das erscheint mir sinnvoll, denn immerhin soll Mars verbrauchte Energie sofort zurück bringen.

Ein unglaubliches Gefühl als Seilschaft durch diese grandiose Landschaft zu laufen. Suchtfaktor volle 100 Prozent. Als das Gelände schwieriger und steiler wird, bekomme ich auch Schwierigkeiten mit der Technik. Immer wieder rutsche ich seitlich über die Kanten des Skis ab. Das kostet Kraft und Konzentration. Bei einem Sturz in 35 Grad steilem, harten Gelände beschleunigt man sehr schnell auf freie Fallgeschwindigkeit - weiter unten reißt das Gelände ab und es geht 200m die Felswand hinunter. Keine angenehme Vorstellung. Andererseits ist der tägliche Weg zur Arbeit sicher um ein Vielfaches gefährlicher - also verdränge ich den Gedanken an einen Absturz.

Die anderen sind zwar in Sichtweite, aber dennoch weit über mir. Ich beschließe der Sicherheit Vorrang zu geben und montiere Harscheisen an meine Ski. Etwas knifflig in dieser Lage - aber machbar. Später lerne ich, daß man sich in einer solchen Situation auch mit einem Eispickel sichern kann.

Mit den Harscheisen geht es sich natürlich noch schwerer. Es trennen mich etwas 100 Höhenmeter vom Gipfel und jeder Schritt fällt schwer. Liegt das an der Höhe, oder am Rucksack - ich habe fertisch. Irgendwann erreiche ich den Gipfel und bin mir sicher - so eine Anstrengung habe ich noch nie erlebt. Für einen kurzen Moment schließe ich es aus jemals wieder mit Skiern auf einen Berg zu klettern.

Ich ziehe die Felle von den Ski ab und fühle mich konditionell als ob man mir gerade das Fell über die Ohren gezogen hat. Da muß er hekommen, der Spruch mit dem Fell....

Aber dann: die Aussicht auf die anderen Gipfel, das Matterhorn und diese unberührten Gletscherwelten und vor allem die Aussicht auf die Abfahrt, holen Kräfte und Motivation zurück. Gipfelglück auf 3.502m.

Eine kurze Rast bei strahlendem Sonnenschein und Föhnsturm - dann geht es abwärts.

Es gibt blaue, rote und schwarze Pisten - und es gibt die schönsten Pisten der Welt: diese sind einfach nur weiß, unberührt und von Powder oder Firn bedeckt. Skialarm ist angesagt.

Es ist gerade kurz nach 9 Uhr als wir zur Abfahrt ansetzen. Perfekte Bedingungen: 5 cm Firn auf fester Unterlage. Das ist definitiv die schönste Skiabfahrt die ich jemals erlebt habe. Kein Vergleich mit Pistenskilauf. Das ist ein weißbaluer Rausch für den sich alle Mühen lohnen - und die Qualen des Anstiegs sind bereits Lichtjahre entfernt.

Wir bekommen das Grinsen gar nicht mehr aus dem Gesicht und wollen mehr. Anstatt weiter zur Hütte abzufahren nehmen wir den Anstieg zum Gwächtenhorn in Angriff. Mit 3.420 nur wenig tiefer als der vorige Gipfel.

Das brauche ich nun nicht mehr. 200m unter dem Gipfel baue ich mir mit meiner Lawinenschaufel einen Liegestuhl aus Schnee und beobachte meine 3 Begleiter beim Anstieg. Man muß es ja nicht gleich übertreiben bei der ersten Hochtour ;-) Sollen die mich doch bei der Abfahrt einfach wieder einsammeln.

Als wir später in der Hütte ankommen will der Wirt es gar nicht glauben, daß es für HaJü und mich die erste Skihochtour war. Er fragt Bernd ob er wahnsinnig sei "Anfänger" auf eine solche Tour zu schleppen. Bernd entgegnet: "die kenn ich schon lange und gut - das sind Mountainbiker! " Der Wirt daraufhin: "Ach so! Ja dann, gehts scho..."

Nächster Tag, gleicher Ort, gleiche Zeit: 6:30 in der Frühe. Wir starten zu Tour Nummer drei. Diesmal etwas kürzer. Nur 500 Höhenmeter und 3km zum mittleren Tierbergli. Leider erreichen wir den Gipfel nicht ganz. Es ist einfach zu neblig und es stürmt. Talwärts jedoch ist die Sonne und so beschließen wir zum Parkplatz abzufahren. Bis dahin sind es etwa 11km. Die Abfahrt im oberen Teil ist wieder pures Firn-Feeling. Weiter unten wird es tief sulzig. Hier trennt sich die skifahrerische Spreu vom Weizen. Schön schwingen kann hier niemand mehr - aber darauf kommt es nicht an. Wir sind alle geübte Skiläufer und erreichen den Parkplatz ohne Sturz.

Sonnenterrasse. Apfelstrudel mit Sahne und ein Radler stehen vor uns. Über uns sehen wir Tierbergli Hütte als winziges Pünktchen auf dem Grat. Und ganz oben, man muß den Kopf schon in den Nacken legen um ihn zu sehen, ganz dort oben ist der Gipfel des Sustenhorns.

Ein wirklich erhebendes Gefühl einen Berg alleine mit Skiern zu bezwingen - hoch wie runter.

Und wir denken: da gibt es doch bestimmt noch andere schöne Berge die auf uns warten!


Es grüßt,


Scotty, vormals Mountainbiker ;-)

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